Aktuelles

Eberhard Freudenreich (EF) im Gespräch mit Christian Malycha (CM)

EF: Was denkst Du, ist die Linie mit der Fläche verwandt? Und wenn ja, wie ist ihr verwandtschaftliches Verhältnis?

 

CM Sie wären wohl verheiratet. Nicht verschwistert, keine entfernten Cousinen und gewiss nicht genealogisch voneinander ableitbar, wie es bei Kandinskys „Punkt und Linie zur Fläche“ den Anschein hat. Eigentlich haben, so glaube ich, Linie und Fläche gar nichts miteinander zu tun. Jede für sich ist unabhängig und eigenständig. Allerdings mögen sie sich begegnen und sich dann als gleichberechtigte Partner miteinander >vermählen<. Idealerweise… das ist aber selten.

 

EF Ist die Linie nicht die äußerste Begrenzung einer Fläche?

 

CM Das kommt später. Erst einmal ist sie die Verbindung zwischen zwei Punkten. Sie hat einen Anfang und ein Ende und zwischen beiden erstreckt oder bewegt sie sich. Anfang- und Endpunkt können nun derselbe sein und dann wird die Linie zum Umriss oder Kontur. Sie umreißt und umgrenzt also, wie Du sagst, was innerhalb liegt. Ob sie damit schon etwas mit dem Umrissenen zu tun hat, wäre die Frage.

 

EF Das ist so. Aber was liegt vor dem Anfang bzw. hinter dem sichtbaren Ende? Ist eine Linie wirklich nur die Verbindung zwischen zwei Punkten? Nehmen wir mal an, wir sehen diese beiden Punkte gar nicht. Sie kommt von außen auf das Blatt und verlässt dieses wieder nach außen. Wie definiere ich diese Linie? Wohl als Segment, aber als Segment von was? Hat sie einen Anfang und ein Ende?

 

CM Ist die Linie eine Umriss- oder eine Konturlinie, sind Anfang und Ende an jeder Stelle dasselbe. Als Verbindungslinie oder „Richtungsvektor“, ob Anfang und Ende nun sichtbar sind oder nicht, teilt sie das Blatt natürlich. Sie durchschneidet das Blatt und plötzlich gibt es ein Oben und ein Unten, ein Links und ein Rechts oder ein Innen und ein Außen. Die Linie schafft ein Verhältnis zwischen mindestens zwei Seiten. Diesen Bezug zwischen zwei Seiten gäbe es aber auch ohne Linie zwischen zwei aneinanderstoßenden Flächen, denk‘ nur an Matisses Papierschnitte.

 

EF Aber genau da entsteht ja eine Linie, wenn zwei Flächen aneinanderstoßen. Die Linie ist da allgegenwärtig, ob sie nun bewusst oder durch das Aufeinandertreffen zweier Flächen entsteht. Zerschneidet eine Linie wirklich eine Fläche, oder bildet sie nur zwei Teilflächen, wobei die Grund- oder Ausgangsfläche autonom weiter existiert? Was ist mit Linien, die eine Schraffur beschreiben? Sie teilen nicht die Fläche, sondern bringen ihr Volumen zur Erscheinung.

 

CM Da hast Du Recht, bloß denkst Du die Linie dann nicht zeichnerisch, sondern malerisch. Wenn man die alte Unterscheidung nimmt zwischen den Zeichnerischen, das linear ist, und dem Malerischen, das flächig ist. Wie heißt es gleich, in der Natur gibt es keine Linien, nur Flächen, die aufeinandertreffen? Das Zerschneiden ist ein wenig komplizierter. Wenn die Linie durchs ganze Blatt geht und man nicht sieht, woher sie kommt und wohin sie geht, teilt und zerschneidet sie. Sieht man sie hingegen vollständig, würde ich sagen, sie liegt auf der Fläche oder ist in die umgebende Fläche „eingebettet“. Bei den Schraffuren wiederum hast Du es schon selbst gesagt. Da wären es viele Umrisslinien, die eine flache Form ausfüllen oder ein angedeutetes räumliches Volumen einfassen.

 

EF Dennoch bleibt es eine Linie. Die Frage beim Zerschneiden einer Fläche ist, ob sie überhaupt mit dieser Fläche in Verbindung steht oder die Linie nur den wie auch immer gearteten Raum zur Verfügung erhält, sich zu entfalten. Wenn eine Linie mit einer Fläche in Kontakt tritt, verändert sich dann die Fläche oder wird in diesem Moment eher der Raum zwischen Linie und Fläche sichtbar beziehungsweise erfahrbar. Die Frage ist auch, ist die Linie etwas Zweidimensionales oder etwas Dreidimensionales. Sie hat ein Rechts und ein Links, ein Vorne und ein Hinten, sie hat sogar ein Oben und ein Unten.

 

CM Was meinst du, sind das Entweder-oder-Fragen? Die Linie auf der Fläche schafft einen Bezug, ein visuelles Verhältnis zwischen zwei Seiten und Farben, zwischen sich selbst und der Fläche, in oder auf der sie liegt. So dass beide Teile zu ihrer vollen Geltung kommen. Für sich allein wäre die Linie etwas Äußerliches, etwas, das von außen auf die Fläche käme. Dagegen wäre das Blatt für sich oder eine flächige Farbe "selbstgenügsam". Bei einem farbigen Fleck etwa wären Form und Inhalt gewissermaßen identisch. Deshalb musste ich vorhin an Matisse denken, der sein Leben lang davon träumte, flächige Farbe und Linie miteinander auszusöhnen. Und wenn sie so in eins fallen, wäre dieses Verhältnis ausgeglichen, die Gegensätze durch ihren Wechselbezug zum Ausgleich gebracht.

 

EF Das ist völlig richtig. Mein Ansatz geht sogar dahin, sowohl der Linie, als auch der Fläche gerecht zu werden. Denn das, was wir wahrnehmen, ist nicht nur die Oberfläche. Der Raum und die Tiefe werden durch ihre Wechselseitigkeit gleichermaßen erzeugt. Daraus entsteht sozusagen ein Dialog zwischen der Linie und der Fläche. Sei es die flächige Farbe wie in der monochromen Malerei oder eine Linie, die sich völlig autonom auf die Fläche äußert und diese dazu bringt, ihre Erscheinung zu verändern.

 

CM Das habe ich schon vermutet. Denn nimmt man zum Beispiel Deine "Kantenzeichnungen, so sind sie im selben Augenblick flächig und eröffnen ebenso eine linear ausschwingende Räumlichkeit. Und Deine Faltungen sind mit dem einen Blick fein gebildete Linearstrukturen und schon mit dem nächsten bewegte Flächenkörper. Und dieser Wechselbezug in Deinen Arbeiten zwischen Fläche und Linie ist tatsächlich etwas Besonderes. Wäre die Kante dann jener Ort, an dem dies geschieht? Der Ort, an dem das eine endet und zugleich etwas anderes beginnt? Wo jene Begegnung stattfindet, die beide Seiten erst voll hervorbringt?

 

EF Ja, ich glaube, die Kante ist ein zentraler Punkt in meiner Arbeit. An der Kante stoßen Raum und Volumen aneinander. Die Kante verwandelt Flächenraum in Volumen. Wie in zum Beispiel vier Zeichnungen aus dem vergangenen Jahr in der die Linie einerseits von ihrer Kante her erzeugt wird und sich zum anderen ihre Erscheinung in der Folge der vier Blätter, deren Grad der Verdichtung zunimmt, von einem umschriebenen Volumen in einen freien Raum entwickelt. Das körperliche Volumen entfaltet sich zum freien Raum.